»Wir brauchen andere Kategorien, um das heute zu bewerten«

Der Leipziger Historiker Martin Clemens Winter zur Rolle Edmund Hecklers beim Leipziger Rüstungsunternehmen HASAG im Nationalsozialismus

Es ist ein ruhiger Mittag an diesem Montag im GWZ in der Beethovenstraße. Für die meisten Studierenden beginnt das Semester erst in einer Woche, weshalb vor allem Lehrende mit ihren Kaffeetassen durch die Gänge ziehen. Wir treffen den Historiker Martin Clemens Winter in seinem Büro, der zur Rolle des Leipziger Rüstungsunternehmens Hugo Schneider AG (HASAG) im Nationalsozialismus am Historischen Seminar der Universität Leipzig forscht. Wir sprechen mit ihm über seine Kritik an einer neuen Studie, die das Rüstungsunternehmen Heckler und Koch in Auftrag gegeben hat

Wer war Edmund Heckler?

Edmund Heckler war einer der Gründer des Rüstungsunternehmens Heckler und Koch in der Bundesrepublik 1949 und hat zur Zeit des Nationalsozialismus in führender Funktion bei der Leipziger HASAG gearbeitet. Er war unter anderem Leiter eines Werkes in Taucha, in dem zivile Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter tätig waren.

Eine neue von Heckler und Koch beauftragte Studie erklärt Heckler und die beiden anderen Firmen-Gründungsmitglieder zu »Opportunisten« und »Mitläufern« im NS. Wie schätzen Sie das ein?

In der Studie wird der Begriff des »Mitläufers«, den ich besonders problematisch finde, tatsächlich als Quellenbegriff benutzt, da Heckler 1948 vom Entnazifizierungsausschuss als Mitläufer eingestuft wurde. Das ist natürlich eine korrekte Aussage. Problematisch ist aber, dass die Presseberichterstattung den Begriff – auch durch die Unternehmenskommunikation geprägt – als Ergebnisse der Studie wiedergibt. Auf der Homepage von Heckler und Koch kann man lesen, dass es eine große Erleichterung über die Ergebnisse dieser Studie gibt, weil Heckler in Taucha »nur« in einem Werk gearbeitet habe, in dem es keine KZ-Häftlinge gab, sondern zivile Zwangsarbeiterinnen und -arbeiter. Doch auch zivile Zwangsarbeit war ein NS-Verbrechen. Zum Zweiten wird natürlich auch generell die ganze Rolle der HASAG zu wenig beachtet: Diese Firma hat Munition für den deutschen Vernichtungskrieg produziert, die auch bei Massenerschießungen von Jüdinnen und Juden in Osteuropa eingesetzt wurde, und war dringend notwendig für Nazideutschland, um diesen Krieg zu führen. Das ist am Ende der Kontext, in dem Edmund Heckler Karriere gemacht hat.

Wie würden Sie die Studie bewerten mit Hinblick darauf, dass Heckler und Koch sie in Auftrag gegeben hat?

An der Studie gibt es wissenschaftlich erst mal nichts zu kritisieren. Das Problem sind eher die Interpretationen, die sich anschließen. Es ist natürlich immer eine Frage, wie man mit Lücken von Quellen umgeht. Also, sagt man: »Es gibt keine Quellen, also gab es auch keine Verbrechen« oder sagt man: »Es gibt keine Quellen, aber es gibt einen Gesamtzusammenhang, den man trotzdem problematisieren kann.« Geht es uns um juristische Kategorien, Schuld, Unschuld? Wir brauchen natürlich andere Kategorien, um das heute zu bewerten. Geschichtswissenschaft ist keine exakte Wissenschaft, da gibt es immer Interpretationsspielräume. Ich glaube, ich würde einige Schlüsse anders gewichten, als es die Kolleginnen und Kollegen getan haben. Aber das heißt nicht, dass sie wissenschaftlich schlecht gearbeitet haben.

Wie zeitgemäß und zielführend sind Bezeichnungen wie »Mitläufer« oder »Rädchen im Getriebe« und welches erinnerungskulturelle und gesellschaftliche Zeichen setzt es, wenn Leute wie Heckler so bezeichnet werden?

Diese Begriffe als Analysekategorien zu benutzen, finde ich fatal, weil uns das um Jahrzehnte zurückwirft. Das sind Täterbilder aus den fünfziger, sechziger Jahren, teilweise auch aus der unmittelbaren Nachkriegszeit. Gerade »Mitläufer« kann man als Quellenbegriff benutzen, so haben das die Kollegin und Kollegen ja auch getan. Aber einen Verantwortungsträger heutzutage so zu bezeichnen, halte ich für ausgesprochen problematisch, weil es eigentlich nichts sagt. Auch das »Rädchen im Getriebe« ist eine Vorstellung aus den Sechzigern. Wir sind heute doch weiter, betrachten das in mehreren Dimensionen und nicht nur als überpersonale Mordmaschinerie. Es gab und gibt immer Handlungsspielräume und eigensinniges Verhalten in den Institutionen, in denen man sich bewegt – und verschiedene Beweggründe für das eigene Handeln. Man musste offensichtlich – und das zeigt uns Heckler – kein überzeugter Nazi sein, um in der Rüstungsproduktion unter Ausnutzung von Zwangsarbeit Karriere zu machen. Das ist eigentlich ein Schluss, den ich viel interessanter finde, als solche altbackenen Kategorien wie »Mitläufer« oder »Rädchen im Getriebe« zu kolportieren.

Sie untersuchen, inwieweit die Unternehmenskultur der HASAG im NS mit Zwangsarbeit und Massenmord an Juden und Jüdinnen zusammenhängt. Welche Handlungsspielräume hatte Heckler denn?

Man muss zunächst einmal anerkennen, dass es immer verschiedene Möglichkeiten gibt, sich zu verhalten – auch für alle, die in diesem Unternehmen gearbeitet haben. Natürlich gab es da viele Zwänge. Aber trotzdem ist ja dann die Frage, wie man sich zum Beispiel den Zwangsarbeiterinnen und -arbeitern gegenüber verhält, mit denen man tagtäglich zu tun hat. In Bezug auf Heckler haben wir diesbezüglich nichts, mit dem wir ganz konkret arbeiten können, nichts über sein Verhalten und Agieren. Sein Name wird in Nachkriegsprozessen nicht genannt. Es gibt keine Zeugenaussagen gegen ihn, deswegen sagt man: Heckler ist fein raus. Damit wiederholt man jedoch die Problematik der NS-Prozesse und das Unsichtbarmachen vieler Täterinnen und Täter von damals. Ohnehin geht es ja weniger um Schuld im juristischen Sinne als vielmehr um historische Verantwortung aus heutiger Perspektive.

1948 fand in Leipzig der sogenannte Kamienna-Prozess statt (in Skarżysko-Kamienna war eines der drei Rüstungsunternehmen in Polen, die die HASAG 1939 übernahm). Dabei standen HASAG-Angestellte vor Gericht, größtenteils »einfache« Angestellte, niemand aus der Leitung. Wie bewerten Sie diesen Prozess?

Viele von den Höherrangigen – auch Heckler – hatten sich in den Westen abgesetzt und waren deswegen gar nicht greifbar für die Justiz in der Sowjetischen Besatzungszone. Die jüdischen Überlebenden haben als Erste die Täter ausfindig gemacht und über die Verbände der Überlebenden an die Justiz und die Polizei übergeben. In den NS-Prozessen wurden vor allen Dingen jüdische Überlebende nach NS-Verbrechen befragt und natürlich benannten die immer die direkten Vorgesetzten. Und so tauchen die Leute ein paar Ebenen drüber nicht so richtig auf. Es ging aus Sicht der Machthaber in der Sowjetischen Besatzungszone auch darum, einen Schlussstrich unter die Verbrechen zu ziehen, um sich danach dem Aufbau eines neuen, „antifaschistischen“ Deutschlands zu widmen.

Der Kamienna-Prozess gehört zu den ersten großen Prozessen, die den Judenmord in Zwangsarbeitslagern zum Inhalt haben. Dabei treffen zwei Deutungen aufeinander: Das eine ist die jüdische Interpretation, die deutlich machen will, dass der Holocaust Mord an Juden als solchen war, weil sie Juden waren. Und zum anderen gibt es auf der staatlichen Ebene eine ideologische Perspektive, und das ist die sogenannte Dimitroff-Doktrin, also, dass der Faschismus die brutalste und schlimmste Form des Kapitalismus sei. Die will den Kapitalismus auf der Anklagebank sehen, was in einem juristischen Strafprozess jedoch kaum funktioniert. Da sitzen konkrete Menschen. Und die sind ganz normale Arbeiterinnen und Arbeiter. Die HASAG war, wie es damals hieß, der »unsichtbare Hauptangeklagte« in diesem Prozess. Das ist das Spannungsfeld dieses Verfahrens. Man wollte zeigen: Hier wird eine neue Gesellschaft aufgebaut, hier entsteht ein neues Justizsystem, das nichts mehr mit der Nazijustiz zu tun hat.

Wie schätzen Sie die Aufarbeitung und Verantwortungsübernahme von NS-Firmengeschichten hier in Leipzig und Umgebung ein?

Zunächst einmal sollte man anerkennen, dass es generell viele Unternehmen gibt, die sich mit ihrer Geschichte zur NS-Zeit kritisch auseinandersetzen. Das Problem bei der HASAG ist, dass sie demontiert und aus dem Handelsregister gelöscht wurde. Das heißt, es gibt keinen Rechtsnachfolger dieses Unternehmens, den man in die Pflicht nehmen könnte, sich mit der Firmengeschichte auseinanderzusetzen. Ähnlich ist es mit vielen in der DDR verstaatlichten ehemaligen Privatunternehmen. Das führt im Fall der HASAG dazu, dass sich diese Frage nach Kontinuitäten oder historischer Verantwortung ganz stark auf so eine Person wie Heckler fokussiert.

Bei Heckler und Koch scheint es mir jetzt so zu sein, dass man im Unternehmen diese Studie als Schlusspunkt der Auseinandersetzung ansieht. In dem Sinne: Wir haben uns jetzt damit auseinandergesetzt, wir haben das wissenschaftlich erforscht, wir machen dazu eine Pressemitteilung und damit ist die Sache auch mal durch. Aber eigentlich ist so eine Studie erst der Auftakt für eine kritische Auseinandersetzung.

INTERVIEW: FRAUKE OTT

zuerst erschienen am 21.11.2023: https://kreuzer-leipzig.de/2023/11/21/wir-brauchen-andere-kategorien-um-das-heute-zu-bewerten